Im Jahr 1985 folgte Mutter Teresa einer Einladung der Vereinten Nationen, aus Anlass des 40. Jahrestags der Gründung der UN vor über 1.000 Würdenträgern und Diplomaten in New York eine Rede zu halten. In der Generalversammlung wurde der gerade fertiggestellte Dokumentarfilm über die Arbeit ihres Ordens gezeigt. Als die Friedensnobelpreisträgerin anschließend den Saal betrat, wurde sie mit Standing Ovations empfangen. Nachdem in dieser Jubiläumswoche viele Staatspräsidenten, Premierminister und Mitglieder von Königshäusern zu Gast gewesen waren, kündigte der amtierende Generalsekretär der Vereinten Nationen, Javier Pérez de Cuèllar, Mutter Teresa mit folgenden Worten an:
»Diese Woche hatten wir das Privileg, die mächtigsten Männer der Welt hier zu haben. Heute haben wir die besondere Ehre, die mächtigste Frau der Welt zu begrüßen. Ich denke nicht, dass ich sie vorstellen muss.« Und er schloss seine Einleitung: »Sie ist die Vereinten Nationen. Sie ist der Friede in der Welt.«
Mutter Teresa eröffnete ihre Ansprache mit den Worten: »Wir sind hier versammelt, um Gott für die 40 Jahre wunderbare Arbeit zu danken, welche die Vereinten Nationen für das Wohl der Menschen geleistet haben. Keine Hautfarbe, keine Religion, keine Nationalität sollte zwischen uns stehen – wir sind alle Kinder Gottes.« Das normalerweise auf eine solche Rede folgende Festbankett ließ Mutter Teresa absagen wie schon bei der Verleihung des Friedensnobelpreises, um das Geld für die Ärmsten der Armen zu verwenden.
Interessant ist, was Mutter vor dieser berühmten Rede getan hatte. Natürlich wird ein Ehrengast der Vereinten Nationen in einem sehr guten Hotel vor Ort untergebracht und von einem Chauffeur mit einer Limousine abgeholt. Nicht so Mutter Teresa. Sie zog es vor, im nächstgelegenen Schwesternhaus ihres Ordens »Missionarinnen der Nächstenliebe« in Washington zu übernachten. Mutter Teresa stand wie an jedem Tag in aller Frühe auf und besuchte zusammen mit den Nonnen die Messe und die Morgenbetrachtungen. Danach wusch sie, wie sie und alle Schwestern es jeden Morgen tun, ihren weiß-blauen Sari mit den Händen. Anschließend begann das Säubern der Fußböden und Toiletten. Die mittlerweile 75-Jährige mutete sich fast immer die Toiletten zu, was in Washington noch gehen mag, in Indien aber eine für viele unerträgliche Arbeit ist. Mutter Teresa scherzte manchmal: »Dafür bin ich Spezialistin, wahrscheinlich die weltbeste Spezialistin im Toilettenputzen.«1 Erst nach dem Waschen und Putzen fuhr ein Helfer ihrer Kongregation sie in seinem klapprigen Wagen über vier Stunden lang von Washington nach New York, damit sie ihre Rede halten konnte. Abends kam sie auf demselben Weg zurück und nahm bis zu ihrer Weiterreise am Tagesablauf der Schwestern teil.
Mutter Teresa hat zu Lebzeiten viele große Ehrungen erhalten. Dazu gehören neben dem 1979 verliehenen Friedensnobelpreis auch 1980 der Bharat Ratna (Juwel von Indien), der höchste zivile Verdienstorden Indiens, sowie die beiden höchsten Auszeichnungen der Vereinigten Staaten von Amerika, 1985 die Presidential Medal of Freedom (Freiheitsmedaille des Präsidenten) sowie 1997 die gleichrangige Goldene Ehrenmedaille des Kongresses. Wie schaffte sie es da, demütig zu bleiben und das eigene Ego nicht von all den Ehrungen und der weltweiten Aufmerksamkeit beeinflussen zu lassen?
Leo Maasburg erzählt in seinem wunderbaren Buch »Mutter Teresa« eine bezeichnende Geschichte:
»Eine ihrer Schwestern, die sie auf einem Überseeflug nach Washington – es ging zum damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan – begleitete, machte eine sonderbare Beobachtung: Mutter Teresa ging zunächst vorne in der Business-Class auf die Toilette, erst auf der rechten, dann auf der linken Seite. Dann wanderte sie in den hinteren Teil des Flugzeugs zu den übrigen Toiletten. Die Neugierde besiegte die Scheu der Schwester, und sie fragte Mutter Teresa nach dem Grund dieses mehrfachen Toilettenbesuchs. Die knappe Antwort lautete: ›Exorzismus!‹
Mutter Teresa hatte alle Toiletten geputzt, und es scheint, als habe sie gerade im Toilettenputzen ein Heilmittel gegen jeden Anflug von Hochmut gefunden. Das würde zu ihrem oft wiederholten Merksatz passen: ›Wie lernt man Demut? Nur durch Verdemütigungen!‹«2
Die Demut ist ein wesentliches Prinzip der Menschlichkeit. Die Leadership-Tugend der Demut beinhaltet, jedem Menschen unabhängig von Rang und Status auf Augenhöhe zu begegnen. Demut ist jedoch keine einmalige Entscheidung, sie ist eine Grundhaltung, die sich im Alltag bewähren muss. Immer wieder gibt es Situationen, in denen man sich selbst zu wichtig nimmt oder sich anderen überlegen fühlt. Menschen spüren es aber, wenn man innerlich auf sie herabschaut, und zwar auch dann, wenn man sie freundlich und höflich behandelt. Was wir denken, strahlen wir über die Mikrosignale des Gesichts aus und der andere kann das unbewusst wahrnehmen. Besonders Führungskräfte verfallen in einem Umfeld des Statusdenkens leicht in die Leadership-Untugend Hochmut. Die Geschichte von Mutter Teresa zeigt sehr anschaulich, wie notwendig es ist, das eigene Ego immer wieder einzufangen und in den Griff zu bekommen.
Was tun Sie, um sich immer wieder zu erden? Wie gehen Sie mit Anflügen von Hochmut um, die wohl jeden von uns von Zeit zu Zeit ereilen?
1 Maasburg, Leo : Mutter Teresa – Die wunderbaren Geschichten, München 2010, S. 205.
2 Ebenda, S. 209.
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