Die meisten Menschen verbinden mit dem Namen von Mutter Teresa auch das berühmte Sterbehaus in Kalkutta, das 1952, zwei Jahre nach der Gründung des Ordens »Missionarinnen der Nächstenliebe«, von ihr eröffnet wurde. Mutter Teresa nahm mit ihren Ordensschwestern Schwerkranke und Sterbende auf, die hilflos auf der Straße lagen, um sie zu nähren und zu pflegen. Das entsprach dem Ordensmotto, den Ärmsten der Armen zu dienen (full hearted and free service to the poorest of the poor), denen sonst niemand hilft und die sich nicht einmal mehr selbst helfen können.
Dieses Haus in Kalkutta war bis dahin das Pilgerhaus des großen Kali-Tempels, der einer der wichtigsten Wallfahrtsorte des indischen Subkontinents ist. Als die Stadt Kalkutta das Haus an die Schwestern übergab, kam es zu heftigen Protesten. Die Anhänger des Kali-Tempels waren erbost darüber, denn sie befürchteten auch, dass die katholischen Schwestern Hindus missionieren wollten. Ein angesehener Hindu-Führer reiste aus Delhi an und scharte gewaltbereite Jugendliche und Männer um sich. Man bewaffnete sich mit Schlagstöcken und Steinen und zog zum Haus der Schwestern, um diese ein für alle Mal aus dem Bezirk des Kali-Tempels zu vertreiben.
Mutter Teresa wurde gewarnt, in welch großer Gefahr sie und ihre Mitschwestern schwebten. Man bat sie, sich in Sicherheit zu bringen. Stattdessen verließ sie das Sterbehaus und ging der aufgebrachten Menge direkt entgegen. Der Hindu-Führer war überrascht, dass diese kleine Nonne sich ihnen stellte. Mutter Teresa sprach ihn ruhig an und schlug ihm vor, das Haus gemeinsam mit ihr zu besichtigen. Der Hindu-Führer willigte ein und ging mit Mutter Teresa ins Innere des Gebäudes. Dort sah er, wie die Schwestern die Schwerkranken und Sterbenden liebevoll pflegten. Selbst eitrige und übel riechende Geschwüre wurden von ihnen geduldig und liebevoll gereinigt und behandelt. Den Missionarinnen der Nächstenliebe gilt der geschundene Körper eines Sterbenden als Verkörperung von Jesus Christus (the body of christ). Ihm zu helfen verstehen sie als Dienst an Christus und Ausdruck der Liebe Gottes. Diese Hingabe rührte den Hindu.
Als er das Haus verließ, rief die wartende aufgebrachte Menge: »Können wir das Haus stürmen?« Der Hindu-Führer antwortete: »Ja, ihr könnt sie vertreiben, aber erst, wenn eure Schwestern und eure Mütter das tun, was diese Schwestern da drinnen tun.« Damit war der Protest beendet und es gab keinen nennenswerten Widerstand mehr.
Mutter Teresa habe, so erzählt man sich, keine Zeichen von Angst gezeigt, als sie der Menge gegenübertrat. Falls sie Angst gehabt haben sollte, hat sie diese überwunden und so oder so eine gefährliche Situation abgewendet. Mutter Teresa ist dem Hindu-Führer unvoreingenommen und mit einem offenen Herzen begegnet, sonst hätte er sich wohl nicht auf ihre Einladung eingelassen.
Auch in unserem Alltag benötigen wir gelegentlich Mut. Es gibt immer wieder Situationen, vor denen wir Angst haben und die uns Überwindung kosten. Vielleicht hilft es Ihnen beim nächsten Mal, wenn Sie sich einer unangenehmen Situation stellen müssen, das Bild der kleinen Nonne vor Augen zu haben, wie sie mit festen Schritten auf die aufgebrachte Menge zugeht und sie mit offenem Herzen für sich gewinnt.
Hat Ihnen der Artikel „Mutter Teresa und der wütende Mob“ gefallen? Sagen Sie uns Ihre Meinung: