Von Mutter Teresa und Nelson Mandela sagt man, dass sie ihre Aufmerksamkeit stets voll und ganz ihrem jeweiligen Gesprächspartner widmeten. Es war dabei egal, ob es sich um einen Armen ohne Bildung oder um einen Staatspräsidenten handelte. Menschen schilderten immer wieder ihren Eindruck, für den Moment der Begegnung der wichtigste Mensch im Leben der Nobelpreisträgerin/des Nobelpreisträgers gewesen zu sein. Mutter Teresa und Nelson Mandela haben Unglaubliches bewirkt. Ich vermute, ihre Fähigkeit zur Präsenz hat wesentlich dazu beigetragen. Wer Großes vollbringen will, kann dies nur mit der Hilfe anderer. Präsent zu sein, sich dem anderen mit ungeteilter Aufmerksamkeit und Zuwendung zu widmen, ermöglicht persönliche Begegnung. Daraus wiederum entsteht Bindung. Der Mystiker Meister Eckhart (1260–1328) brachte es schon vor 700 Jahren auf den Punkt:
Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart, der bedeutendste Mensch immer der, der dir gerade gegenübersteht, und das notwendigste Werk immer die Liebe.
Ungeteilte Aufmerksamkeit
Wem aber gelingt es heute noch, mit ganzer Aufmerksamkeit präsent zu sein? Um den anderen wahrzunehmen, müssen wir aufnahmefähig und fokussiert sein. Unsere Aufmerksamkeit ist aber meist zerstreut und zum Teil mit anderen Gedanken abgelenkt. Wenn es Ihnen ergeht wie den meisten Menschen, ist es gut, sich bewusst zu machen, dass es nur eine Zeit und einen Ort gibt, in der und an dem das Leben stattfindet. Diese Zeit ist jetzt, und der Ort ist genau da, wo Sie gerade sind. Nur auf den gegenwärtigen Augenblick haben Sie einen Einfluss. Alles andere ist vorbei oder liegt in der Zukunft. Ihre ganze Macht liegt im Hier und Jetzt. Wo also sollte Ihr Geist sein?
Selbstverständlich müssen Sie als Führungskraft und auch als Privatperson manchmal über die Vergangenheit oder auch über die Zukunft nachdenken. Der Geist sollte sich dann durchaus darauf konzentrieren. Wenn wir uns jedoch überwiegend außerhalb des Hier und Jetzt bewegen, verpassen wir das Leben und reduzieren unseren Einfluss. Wir denken über die Präsentation am nächsten Tag nach und sehen im aktuellen Gespräch den Gesichtsausdruck des Mitarbeiters nicht, der deutlich seine Zweifel, Angst oder Verärgerung widerspiegelt.
Wenn Verstand und Ego zu laut sind
Der Verstand ist ein sehr wirkungsvolles Instrument, das Vergangenes einordnen und Zukünftiges vorwegnehmen kann. Bei den meisten Menschen verhält er sich jedoch leider wie eine Waschmaschine, bei der die Stoppfunktion defekt ist. Die Kleidungsstücke bzw. die Gedanken werden immer weiter gedreht und durcheinandergeworfen. Die Maschine hört niemals auf zu drehen. Sie wurde aber nicht dafür gebaut, endlos zu laufen. Nach getaner Arbeit sollte sie eigentlich wieder stillstehen, und genauso ist es mit dem Verstand.
Machen Sie einfach mal einen Test, indem Sie sich bequem auf einen Stuhl setzen und bei geschlossenen Augen versuchen, für zehn Minuten nur wahrzunehmen, ohne zu denken. Sie werden dann beispielsweise Ihren Atem wahrnehmen, den Körper spüren und Geräusche hören. Das Erstaunliche ist, dass wir es kaum schaffen, den Verstand inaktiv zu lassen. Noch während Sie sitzen und atmen, kommentiert und bewertet Ihr Verstand, was Sie wahrnehmen. Er spielt Ihnen Bilder ein, stellt Fragen oder tut irgendetwas, was Sie in Ihrer reinen Wahrnehmung stört. Sie können ihn nicht abstellen. Warum das so ist, welche Probleme es mit sich bringt und wie man den Denker bzw. das Ego einschränkt, hat Eckhart Tolle ganz hervorragend in seinem Buch »Eine neue Erde« beschrieben. Tolle meint, dass der Verstand ein Eigenleben führt und wir nicht denken, sondern von unserem Verstand gedacht werden. Es herrscht fast nie Ruhe im Kopf: Die ohne Unterlass laufende Waschmaschine verhindert Präsenz.
Nehmen wir ein anderes Bild: Stellen Sie sich vor, es würde den ganzen Tag jemand neben Ihnen stehen, der alles, was Sie sehen, tun oder vorhaben, kommentiert. Diese Person würde den ganzen Tag auf Sie einreden und alles bewerten, was gerade passiert, und noch dazu eigene nicht zusammenhängende Gedanken einbringen. Könnten Sie sich dann noch auf andere einstellen und den Moment wahrnehmen, wie er tatsächlich ist? In genau dieser Situation sind Sie häufig, nur dass die Person nicht neben Ihnen steht, sondern in Ihrem Kopf sitzt. So wie Sie der Person neben sich sagen würden: »Jetzt halt einfach mal deinen Mund«, müssten Sie es auch dem Verstand sagen, der den ganzen Tag vor sich hin brabbelt. Wenn man es schafft, den »Denker« anzuhalten und sich ganz auf die aktuelle Situation einzulassen, kann man plötzlich die Realität besser wahrnehmen. Und auf das, was man wahrnimmt, kann man dann intuitiv reagieren. Erstaunlicherweise ist diese intuitive Reaktion oft wesentlich besser als das, was einem der Denker/das Ego geraten hätte. Ist der Denker nämlich ausgeschaltet und sind wir präsent im Hier und Jetzt, haben wir Zugang zu einer inneren Weisheit, die jeder Mensch nutzen kann. Manchmal spüren wir eine solche Intuition oder ein »Bauchgefühl«, richten uns aber nach dem, was der Denker/das Ego empfiehlt. Oft stellen wir im Nachhinein fest, dass es besser gewesen wäre, der Eingebung zu folgen.
Wie Sie Ihre Präsenz stärken können
Ein Begriff, der in den letzten Jahren oft bemüht und wie das »Hier und Jetzt« zum Schlagwort wurde, ist die »Achtsamkeit«. Tatsächlich hängen beide eng zusammen. Eine Beschreibung der buddhistischen Auslegung von Achtsamkeit findet sich bei Thomas Hohensee in seinem ebenfalls sehr lesenswerten Buch »Der Buddha hatte Zeit«.
Wenn man Achtsamkeit als bewusste gleichzeitige Wahrnehmung unseres Körpers, unserer Gefühle, unseres Denkens und unserer Umwelt definiert, so erscheint Achtsamkeit als Ideal zwar richtig, aber gleichzeitig etwas alltagsfern. Was also tun? Sie können Ihre Präsenz stärken, indem Sie Ihre Aufmerksamkeit immer wieder auf einen der vier Bestandteile von Achtsamkeit ausrichten. Versuchen Sie, gegenwärtig zu sein und sich mit Ihrer Aufmerksamkeit einer Sache voll zu widmen. Wenn Sie mit einem Mitarbeiter sprechen, dann sollte es eben diese Person sein.
Viele Führungskräfte sind ungeduldig. Sie hören dem anderen nicht richtig zu. Sie glauben schon zu wissen, was der andere sagen will, oder es interessiert sie schlichtweg nicht. Sie wollen die Sichtweise des Mitarbeiters nicht kennenlernen. Deshalb unterbrechen sie den Mitarbeiter und fallen dem anderen ins Wort. Nicht wenige Manager scheinen zu glauben, ungeduldiges hektisches Zuhören sei ein Zeichen der eigenen Bedeutsamkeit. Man hat schließlich noch anderes zu tun. Aber sie bezahlen einen hohen Preis. Der Mitarbeiter entwickelt so nämlich kein Vertrauen, keine Bindung und keine Loyalität gegenüber der Führungskraft.
Oft haben Mitarbeiter eine Frage oder ein Anliegen, das nur wenige Minuten beansprucht. Es ist die Entscheidung der Führungskraft, ob sie dem anderen für diese kurze Zeitspanne ihre volle Aufmerksamkeit schenkt und sich der Person präsent zuwendet oder ob sie dem Gegenüber den Eindruck vermittelt, ein weiterer Störfaktor in ihrem Tagesablauf zu sein. Zu glauben, man spare durch Ungeduld und halbherziges Zuhören Zeit, ist eine Illusion. Das Gespräch dauert genauso lange. Das Unterbrechen und Ins-Wort-Fallen spart bestenfalls Sekunden ein. Der Unterschied ist aber, dass das Gegenüber sich in dem einen Falle wahrgenommen und respektiert fühlt und im anderen Fall nicht. Außerdem wird die Führungskraft, die tatsächlich zuhört, viel besser Informationen aufnehmen können und noch dazu erkennen, welche Botschaften jenseits der Sachinformation mitgeteilt werden.
Übrigens: Die Präsenz einer Person trägt laut der Stanford-Dozentin Olivia Fox Cabane einen beträchtlichen Teil zum Charisma eines Menschen bei.
Fragen zur Reflexion:
- Sind Sie präsent, wenn Sie mit Ihren Mitarbeitern zu tun haben, oder schweifen Ihre Gedanken im Gespräch oder in Meetings gern mal ab?
- Unterbrechen Sie Menschen häufig oder hören Sie aufmerksam zu?
- Strahlen Sie im Gespräch Ruhe aus oder eher Hektik?
Aufgabe:
Achten Sie einmal bewusst darauf, was der Denker/das Ego/die Waschmaschine in Ihrem Kopf denkt. Sie werden sehr wahrscheinlich feststellen, dass sich viele Gedanken andauernd wiederholen, ohne einen Mehrwert zu bringen. Vieles von dem, was wir denken, ist unnütz, redundant und manchmal sogar stark destruktiv (innerer Kritiker). Diese Endlosschleifen können Sie mit viel Übung abstellen, indem Sie lernen präsent zu sein und sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.