Kurzkritik
Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt erzählt von Menschen und Philosophen, die sein Denken und Leben geprägt haben. Man kann durch die Lektüre vor allem etwas darüber erfahren, wie sich Schmidt seine Werte und Sichtweisen angeeignet hat, weniger über seine Art der Führung.
Das Buch schildert Begegnungen mit berühmten und weniger berühmten Persönlichkeiten. Vor allem mit französischen, amerikanischen und chinesischen Staatslenkern traf Schmidt sich regelmäßig. Bei der Vorstellung seiner Vorbilder ordnet er deren Beitrag historisch ein und stellt immer wieder interessante geschichtliche Verknüpfungen her.
Schmidt regt mit diesem leicht zu lesenden Buch auch an, sich mit philosophischen Grundlagentexten zu beschäftigen.
Titel: Was ich noch sagen wollte
Autor: Helmut Schmidt
Seiten: 239
Verlag: C. H. Beck
Preis: 19 €
Ausführliche Kritik
Den Autor Helmut Schmidt muss man sicher nicht vorstellen, gilt er vielen Deutschen doch im Rückblick nicht nur als bisher bester Bundeskanzler, sondern wurde noch zu Lebzeiten auch der beliebteste Politiker Deutschlands a. D. Seine Fähigkeit, als Mitherausgeber der Wochenzeitschrift »Die Zeit« auch im hohen Alter noch pointiert weltpolitische Themen zu erläutern, hat sicherlich zu seinem hohen Ansehen beigetragen. Dieses Buch veröffentlichte er im Alter von 96 Jahren.
Gleich zu Beginn schreibt Schmidt, welche Absicht er mit dem Buch verfolgt: »Ich will die entscheidenden Begegnungen meines Lebens einmal zusammenfassen und zugleich kontrastieren mit Gestalten der Geschichte, die mich bestimmt, Kunstwerken, die mich fasziniert, Büchern, die mein Weltbild geprägt haben. Ich will mir, mit einem Wort, Klarheit darüber verschaffen, wie ich wurde, der ich bin.«1 Das Buch erfüllt diesen Anspruch und gibt spannende Einblicke.
In der ersten Hälfte berichtet Schmidt über seine Jugend, seine Zeit als Soldat, politische Leitbilder zu Beginn seiner Karriere als Politiker, seinen Weg zur Kunst und über seine Ehe mit Hannelore (»Loki«) Schmidt, die beeindruckende 68 Jahre dauerte. So erfährt der Lesende, was Helmut Schmidt in jungen Jahren geprägt hat. Sein Onkel schenkte dem Jugendlichen zur Konfirmation das Buch »Selbstbetrachtungen« von Marc Aurel. Die in dem Klassiker vertretenen Tugenden der Gelassenheit und der Pflichterfüllung macht er sich auf Lebenszeit zu eigen. Kaiser Marc Aurel ist für Schmidt aber auch ein Beispiel dafür, dass ein Mensch nicht in allen Bereichen ein Vorbild sein kann, denn: »Vorbildlich kann ein Mensch […] nur in einzelnen Bereichen sein, durch Eigenschaften und Tugenden, die ihn vor anderen auszeichnen.«2 Tatsächlich werden Vorbilder häufig aufgrund mangelnder historischer Kenntnisse überhöht und unangenehme Charaktereigenschaften vollständig ausgeblendet. Marc Aurel ist dafür ein Beispiel. Zwar war er als Philosoph ein bedeutender Vertreter der jüngeren Stoiker und strebte Gelassenheit als eine der wichtigsten Eigenschaft an, gleichzeitig führte er als römischer Kaiser aber nach 50 Friedensjahren wieder massiv Kriege. In seiner Regierungszeit wurden die bereits abgeschaffte Sklavenfolter und die Christenverfolgung wieder eingeführt. Das deckt sich nicht mit dem Bild des weisen Philosophen, das viele sich heute von ihm machen. Gerade solche Korrekturen und eingestreuten historischen Verweise sind ein Grund dafür, dass es Freude bereitet, die Betrachtungen von Helmut Schmidt zu lesen. In »Was ich noch sagen wollte« gibt es immer wieder Spannendes und Unverhofftes zu entdecken.
Ab der Seite 107 hat mich das Buch richtig gepackt und ich konnte es kaum noch aus der Hand legen. In der ersten Hälfte des Buches ist das Leben von Schmidt eben noch ein relativ »normales«, das Parallelen zu anderen und weitaus weniger bekannten Persönlichkeiten seiner Generation zeigt. In der zweiten Hälfte kommt der ältere, erfahrene und weltweit vernetzte Politiker Helmut Schmidt mehr zum Vorschein. In diesem Teil des Buches behandelt Schmidt eine Reihe von Persönlichkeiten, die als außergewöhnliche Leader des 20. Jahrhunderts bekannt geworden sind: John F. Kennedy, Papst Johannes XXIII., Winston Churchill, Deng Xiaoping, Lee Kuan Yew oder Charles de Gaulle. Helmut Schmidt teilt uns seine Meinung über diese echten oder auch vermeintlichen Vorbilder mit und stellt deren Leistung jeweils in einen historischen Zusammenhang. Viele der vorgestellten Politiker und Würdenträger hat er in seiner Amtszeit und auch in den Jahrzehnten danach persönlich getroffen, manche wurden Freunde. Mit wenigen Worten charakterisiert er deren Persönlichkeit. Sein wichtigstes Kriterium scheint mir stets die Standhaftigkeit und damit auch die Zuverlässigkeit einer Person gewesen zu sein. Konnte man sich auf das Wort dieser Person verlassen oder fiel sie bei starkem politischen Gegenwind um? Weiterhin lobt Schmidt gern das pragmatische Denken bei Politikern und »die entscheidende Tugend: die Fähigkeit zum Kompromiss, der Wille und die Bereitschaft zum Frieden«.3 Es verwundert demnach auch nicht, dass Schmidt gerade mit den Präsidenten oft Jahrzehnte anhaltende Freundschaften schloss, die diese Eigenschaften besaßen.
Begeistert hat mich der Blick des Insiders, der die Weltpolitik selbst mitbestimmt hat. Das führt auch dazu, dass Schmidt Persönlichkeiten in den Vordergrund stellt, die Großes bewegt, der Öffentlichkeit in Deutschland heute aber weitgehend unbekannt sind. So schreibt Schmidt zum Beispiel über den »großen Franzosen« Jean Monnet: »Man kann ihn den eigentlichen Wegbereiter der Europäischen Union nennen, obwohl er nie Regierungschef oder auch nur Minister war, ja nicht einmal ein politisches Mandat besaß.«4 Schmidt begründet seine Meinung natürlich. Sagt Ihnen der Name Jean Monnet etwas? Ähnlich erging es mir mit John McCloy, der nach dem Krieg amerikanischer Hochkommissar in Deutschland war. Es ist ein Verdienst dieses Buches, solche Menschen, die Außergewöhnliches geleistet haben, einzuordnen und zu würdigen und andere, weitaus bekanntere Persönlichkeiten von ihrem unberechtigt hohen Sockel zu heben.
Ein anderes Verdienst von »Was ich noch sagen wollte« besteht darin, Lust auf die Lektüre von Grundlagentexten zu vermitteln, was jeder Führungskraft zu empfehlen wäre. Helmut Schmidt schreibt: »Ich bin Eklektiker, das heißt, ich suche mir überall das heraus, was zu mir passt. Und wende es so an, dass es mich weiterbringt.«5 Er zeigt deshalb im Laufe des Buches immer wieder, wie das Denken historischer Persönlichkeiten ihn geprägt hat. Dabei werden neben Mark Aurel auch Immanuel Kant, Karl Popper, Max Weber, Konfuzius, Gustave Le Bon, Marcus Tullius Cicero und weitere besprochen. Beim Lesen seiner Gedanken über diese Autoren wird deutlich, dass Schmidt sich jeweils spezifische Ideen aus dem Gesamtwerk der Autoren herausgegriffen hat. Insgesamt wecken seine Reflexionen die Neugier, sich selbst wieder einmal mit solchen Texten auseinanderzusetzen. Das Lesen ist für Führungskräfte alles andere als selbstverständlich, denn Manager haben kaum Zeit, geschweige denn die Geduld, sich in solch anspruchsvolle Literatur einzulesen. Gelebte Werte entstehen aber nicht aus dem Nichts. Entweder man bekommt sie vorgelebt oder man muss sie sich durch Nachdenken erarbeiten. Das »Nach-Denken« darf man hier wörtlich verstehen, indem man sich damit beschäftigt, was »Vor-Denker« teils schon vor Jahrhunderten formuliert haben. Schmidt vermittelt anschaulich und beispielhaft diesen Weg des Nachdenkens als den seinen.
Fazit:
Ein sehr gutes Buch, das anschaulich zeigt, wie Schmidt zu dem wurde, der er war, und das erahnen lässt, warum er in Deutschland und der Welt so viel Anerkennung erfahren hat.
© 2017 Alexander Groth (www.leadershipjournal.de)
Bild Helmut Schmidt: Copyright Bundeswehr/Archiv
1 Schmidt, Helmut: Was ich noch sagen wollte, Hamburg 2016, S. 14.
2 Ebenda, S. 13.
3 Ebenda, S. 191.
4 Ebenda, S. 205.
5 Ebenda, S. 153.